Erinnerungen an ein viel zu kurzes Leben
An einem Sonntagmorgen im Mai wurdest du geboren. Deine Geburt läuft wie ein Film vor meinem inneren Auge ab: Ich wurde in den Kreissaal gefahren, es war eine unheimliche Hektik um mich herum und als ich wieder zu mir kam, hörte ich ein Baby ganz fürchterlich weinen. Auf meine Frage, wer denn da so weinen muss, bekam ich zur Antwort: „Das ist Ihr kleiner Sohn“. Beim Geburtsvorgang wurde offensichtlich bemerkt, dass du dir die Nabelschnur um den Hals gewickelt hattest. Ohne mir etwas zu sagen, bekam ich eine Narkose und du musstest in deinem Bettchen ganz alleine warten, bis deine Mama wieder zu sich kam. Das hat dir wohl nicht gefallen und dies hast du mit lautem Protest kundgetan. Aber als ich dich dann in die Arme nahm, warst du ganz schnell beruhigt und bist eingeschlafen. Nach fünf Tagen durften wir beide nach Hause gehen. Wir wurden schon sehnsüchtig von deiner großen Schwester, die damals 7 Jahre alt war erwartet. Leider hattest du eine ganz schlimme Ernährungsstörung. Keine Nahrung konntest du bei dir behalten, aber dies haben wir bald in den Griff bekommen und du bist ein gesundes Baby geworden. Ich sehe noch heute deine Schwester an deinem Bettchen stehen mit einem Fläschchen voll Tee in der Hand, weil der das Einzigste war, das du in dir behalten konntest. Sie war wie ein kleines Mütterchen.

An deinem ersten Geburtstag hast du von uns allen unbemerkt eine ganze Tüte Gummibärchen gegessen. Dir war anschließend furchtbar schlecht und für dich war der Geburtstag vorüber. Dann musste ich wieder arbeiten gehen und du warst tagsüber bei einer Tagesmutter. Das hat dir gar nicht gefallen. Es war jeden Tag aufs Neue ein Kampf, bis ich zur Arbeit fahren konnte. Du wolltest dort nicht bleiben, sondern wieder mit mir mitgehen, obwohl du dich bei deiner Tagesfamilie eigentlich ganz wohl gefühlt hast, wenn ich nicht mehr dabei war.

Als du drei Jahre alt warst, bist du in den Kindergarten gekommen. Auch dort wolltest du nicht hin, du wolltest immer nur bei deiner Mama sein. Es hat fast ein halbes Jahr gedauert, bis du ohne Protest morgens in den Kindergarten gegangen bist. Vorher musste ich immer lange bei dir sitzen bleiben, bis ich gehen konnte, ohne dass du in Tränen ausgebrochen bist.

Du hast mit Begeisterung Playmobil gespielt. Immer wenn wir weggingen, hattest du einen kleinen Koffer dabei, in dem deine wichtigsten Playmobilfiguren waren. Ohne diesen Koffer bist du nirgendwohin gegangen.

Als du vier Jahre alt warst, habe ich mich von deinem Papa getrennt, es ging einfach nicht mehr. Ich glaube, am Anfang warst du sehr traurig, hast dich aber sehr bald an den neuen Partner deiner Mama gewöhnt und hast ihn sehr gern gehabt.

Als du sechs Jahre alt warst, kam dein kleiner Bruder auf die Welt. Du hast ihn heiß und innig geliebt. Er konnte kaum laufen, da hast du ihn schon auf ein Skateboard gestellt. Überall hin hast du ihn mitgenommen, nie wurde es dir zuviel. Du hast sogar mit ihm in einem Zimmer geschlafen, auf deinen eigenen Wunsch. Im selben Jahr kamst du auch in die Grundschule. Zur gleichen Zeit sind wir auch umgezogen. Du hast dich sehr schnell am neuen Wohnort eingewöhnt und hast bald neue Freunde gefunden. Mit großer Begeisterung bist du mit deiner riesengroßen Schultüte dorthin gelaufen. Die Schule hat dir Spaß gemacht und du hast auch dort viele Freunde gewonnen, die dich fast alle durch deinen Schulalltag begleitet haben. Sie sind mit dir aufs Gymnasium gewechselt. Mit ihnen hast du Fußball und Tischtennis gespielt. Mit ihnen bist du ins Aikido und ins Turnen und zum Skilanglauf gegangen. Mit manchen warst du bis zum Ende deines Lebens befreundet.

Aber ich glaube, durch die Geburt deiner Geschwister und durch meine Berufstätigkeit hatte ich nicht soviel Zeit für dich, wie ich hätte haben sollen. Ich glaube, du hast dich manchmal sehr alleine gefühlt.  Nach der Geburt deines Bruders war ich zwar zu Hause, musste mich aber viel um das Baby kümmern und du bliebst dabei oft auf der Strecke, obwohl deine große Schwester immer für dich da war. Michi, das tut mir sehr leid, aber ich kann es nun nicht mehr ändern.

Mit ungefähr 13 Jahren wurdest du vom Fußballspielen nach Hause gebracht. Du konntest nicht mehr laufen und wir dachten alle, dein Fuß wäre verstaucht. Als die Schmerzen in der Nacht immer schlimmer wurden, sind wir ins Krankenhaus gefahren. Dort wurde festgestellt, dass du dir einen Wadenbeinbruch zugezogen hast und du bekamst einen Gipsverband. Es war in der Faschingszeit und in der Schule fand eine Faschingsfeier statt. Du hast es dir nicht ausreden lassen, an dieser Feier teilzunehmen und hast dich als Clown verkleidet. Das beste Kostüm bekam einen Preis. Diesen Preis hast du bekommen, der Clown mit dem Gipsbein. Ich werde nie vergessen, wie stolz du da warst.

So im Nachhinein habe ich manchmal das Gefühl, dass du zuviel Freiheit hattest, weil ich immer mit deinen jüngeren Geschwistern beschäftigt war. Ich hätte viel mehr Zeit für dich haben müssen, das tut mir jetzt wahnsinnig leid und hätte die Uhr der Zeit gerne zurückgedreht.

Nach 10 Jahren Schule hattest du keine Lust mehr und wolltest lieber einen Beruf erlernen. Ich wollte dich davon abhalten und dich dazu überreden, weiter zur Schule zu gehen, Aber nach kurzer Zeit hast du selber bemerkt, dass dies nicht der richtige Weg für dich ist und du hast die Technische Oberschule besucht.

Als du 18 Jahre alt warst sind wir nach Bautzen gezogen. Du wolltest nicht mit, weil du gerade eine Lehre anfangen wolltest. Aber als der Möbelwagen abfahrtbereit war, da hast du fürchterlich geheult und hättest am liebsten alles wieder rückgängig gemacht und wärst mit uns gefahren, hättest du es nur gemacht. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Die Lehre hast du nämlich nach kurzer Zeit wieder abgebrochen, weil du bemerktest, dass es nicht der richtige Weg für dich war. Du hast dich dann dafür entschieden, eine Ausbildung zum Umwelttechnischen Assistenten mit Fachhochschulreife zu machen.

Danach musstest du deinen Grundwehrdienst bei der Bundeswehr ableisten. Du hast dich für 24 Monate verpflichtet. Nach deiner Grundausbildung wurdest du für einen Einsatz im Kosovo ausgebildet. Dann bist du in den Kosovo gegangen. Dieser Einsatz hat dir gefallen, leider konntest du ihn nicht bis zu Ende ausüben, weil du die große Hitze nicht vertragen hast und eine Hauterkrankung bekommen hast.

Als deine Bundeswehrzeit vorbei war, hast du mehrere Jahre bei einer Bank gearbeitet. Dann wolltest du dir deinen großen Wunsch erfüllen und studieren. Du hast die Aufnahmeprüfung gemacht und auch bestanden. Leider konntest du das Studium nicht mehr beginnen, weil du einfach gestorben bist, mit knapp 26 Jahren an plötzlichem Herzversagen.

Wir erinnern uns ...

beim Aufgang der Sonne und bei ihrem Untergang
erinnern wir uns an dich,
beim Wehen des Windes und in der Kälte des Winters
erinnern wir uns an dich,
beim Öffnen der Knospen und in der Wärme des Sommers
erinnern wir uns an dich,
beim Rauschen der Blätter und in der Schönheit des Herbstes
erinnern wir uns an dich,
zu Beginn des Jahres und wenn es zu Ende geht,
erinnern wir uns an dich,
wenn wir müde sind und Kraft brauchen,
erinnern wir uns an dich,
wenn wir verloren sind und krank in unserem Herzen,
erinnern wir uns an dich,
wenn wir Freude erleben, die wir so gerne teilen würden,
erinnern wir uns an dich
so lange wir leben, wirst du auch leben, denn du bist ein Teil von uns,
wenn wir uns an dich erinnern.

( nach "Tore des Gebets", Reformiertes Jüdisches Gebetsbuch,„Wenn das Leben mit dem Tod beginnt“ Elwin Staude Verlag Hannover 1994)

 
        
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